Die emotionale (R)Evolution - Der momentan wichtigste menschliche Entwicklungsschritt!?
16. November 2021
Wenn mich jemand fragen würde, was derzeit das wichtigste Thema der Menschheit ist, so würde ich mit Sicherheit eines ganz deutlich hervorheben: Unsere emotionale Genesung und Gesundheit. Viele von uns fühlen sich ihren Gefühlen und Emotionen völlig ausgeliefert, was häufig eine ungesunde innere und äußere Macht-Ohnmacht Dynamik aufkommen lässt.
Ja, Klimazerstörung, Umweltzerstörung, damit einhergehend die Zerstörung vieler Lebensräume für Tiere, die Massentierhaltung und Tötung, die momentane Pandemie, Rassismus, soziale und politische Diskriminierung sind Themen, die ebenfalls auf die Liste der dringenden Themen gehören, sie lassen sich in der Tiefe jedoch nur lösen, wenn wir eins begreifen:
Wie wir mit Problemen, Herausforderungen, Krisen und Konflikten umgehen, hängt massgeblich davon ab, wie wir emotional darauf reagieren.
Unsere emotionalen Reaktionen auf Menschen und Situationen sind nicht willkürlich oder werden von uns bewusst gesteuert, sondern Ausdruck erlernter Muster, die wir in frühester Kindheit angelegt haben. Dort werden Bewältigungsstrategien gelernt, die uns überleben lassen.
Diese Muster und Bewältigungsstrategien oder Schutzprogramme (kämpfen, flüchten, erstarren oder unterwerfen) sind unsere Blaupause, wie wir uns in Krisensituationen oder Konflikten verhalten. Erst wenn wir uns dessen bewusst sind, sie kennen und präsent wahrnehmen können, sind wir in der Lage sie ggf. zu verändern oder angemessen auf Menschen und Situationen zu reagieren.
Das Bewusstwerden und die Heilung unserer emotionalen Wunden ist wiederum die Voraussetzung, wenn nicht sogar die entscheidende Voraussetzung, die oben genannten Themen zu lösen. Denn das Wissen, Know How und Technologien sind bereits da oder auf dem Weg, die helfen können Klima- und Umweltzerstörung rückgängig zu machen. Es ist unser Konsumverhalten (was ebenfalls Ausdruck einer gestörten emotionalen Verfassung ist) sowie Konflikte und unnötige Debatten über den Einsatz dieser, die ein schnelleres Vorankommen erschweren. Die Themen Rassismus und alle Formen sozialer Diskriminierung sind ebenfalls das Produkt einer gestörten Beziehung zu sich selbst und somit nur lösbar, wenn die Menschheit emotional genest, um unnötige Macht-Ohnmacht Dynamiken zu entschärfen.
Was hindert uns daran, angemessen, sachlich, offen und anderen zugewandt zu reagieren?
Zum einen, weil viele in dysfunktionalen Familien aufgewachsen sind oder durch z.T. veraltete und dementsprechende missbräuchliche Erziehungsmodelle erzogen wurden. Hinzu kommen kleinere und größere Traumata, die wir alle im Verlauf unserer Biografie erlebt haben. Selbst wenn man nicht aus stark dysfunktionalen Familien stammt, so fehlt es dennoch den allermeisten, auch den gut „funktionierenden“ Erwachsenen, an starken und guten Vorbildern, an positivem Feedback der Eltern und Vorbildern, an Selbstbestimmung, an durchgängiger Zuwendung, emotionaler Begleitung und z.T. auch an wirklich aufrichtigem Interesse der Erwachsenen. Am schwerwiegendsten sind jedoch alle nicht verarbeiteten Gefühle, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben. Womit nicht nur diejenigen gemeint sind, die in der eigenen Biografie entstanden sind, sondern auch diejenigen, die wir über unsere Vorfahren weitergegeben bekommen haben und nie Beachtung oder gar Auflösung erfahren haben.
WIE LÖSE ICH EMOTIONALE ALTLASTEN AUF?
Der erste und allerwichtigste Schritt ist: Wir müssen uns gezielt mit dem Wissen um Gefühle und Emotionen beschäftigen. In unserer heutigen Zeit können wir ins Weltall fliegen mit dem dazugehörigen Expertenwissen, wir können hochgradig komplexe Computer und Maschinen bauen; Was viele nicht schaffen ist, innere und äußere Konflikte auf friedliche und konstruktive Weise zu lösen, nicht in ein Schwarz-Weiß Denken zu verfallen oder auf Gedeih und Verderb Recht haben zu wollen. Das führt mich zu dem Schluss:
So wie wir Schreiben, Lesen und das kleine 1x1 lernen, müssen wir den richtigen Umgang mit Gefühlen und Emotionen lernen. Das Wissen um Traumata und unverarbeitete Emotionen und deren Konsequenzen muss ins Massenbewusstsein kommen und in jeder Bildungseinrichtung gelehrt werden.
Annahme und Anerkennung aller Gefühle
Bevor wir etwas auflösen können, müssen wir es erkennen und klar benennen. Es gibt leider immer noch die (unbewusste) Ansicht, dass es gute und schlechte Gefühle gibt. Aber auch oder gerade die Annahme und Anerkennung der schlechten und verbotenen Gefühle ist essentiell.
Wenn wir diese Gefühle erkannt haben, ist der nächste Schritt der Lösung, sie zu fühlen.
Denn Beobachtung, Einsicht und Erkenntnis sind wichtig Voraussetzungen und der Beginn der Auflösung von schweren und alten Emotionen. Wie auch unser Körper, so besteht auch unsere Psyche aus Ebenen und Schichten. Wir können vordergründig und oberflächlich etwas „korrigieren“, wenn wir umfassende Heilung wollen, müssen wir in die Tiefe gehen. Wollen wir tiefe Schichten erreichen, so müssen wir diese Gefühle an die Oberfläche bringen, nur so können sie heilen.
Heilende Wut
Wenn wir Unrecht oder Ungerechtigkeit erfahren haben, auch wenn diese subjektiv erlebt wurde, so ist es normal und natürlich mit Wut darauf zu reagieren. Dürfen oder können wir die Wut nicht ausdrücken, weil wir sonst ausgrenzt, bestraft oder ernsthaft in Gefahr geraten würden, unterdrücken wir sie. Sie bleibt also stecken.
Viele Menschen haben keinen Zugang zu ihrer Wut, weil sie nach wie vor als etwas Schlechtes gilt. Wollen wir Zugang zu den tieferen Schichten unserer Psyche bekommen, so kommen wir an unserer Wut nicht vorbei, auch wenn wir Angst vor ihr haben. Wut ist nichts Schlechtes, sie wird nur dann zerstörerisch, wenn sie unterdrückt und verdrängt wird.
Wenn wir der Wut keinen Raum geben, suchst sie sich ihn. Das zeigt sich in einer unkontrollierten Entladung oder z.B. als Depression, Ängste, inneren Entzündungsreaktionen oder Autoimmunerkrankungen; dass heisst sie richtet sich gegen uns selbst.
Heilende Trauer
Erst wenn wir unsere Wut entdeckt haben, kommen wir eine Etage tiefer. Dort sitzt unsere Trauer. Depressionen, Ängste oder Scham, können durch Trauerarbeit Schicht für Schicht aufgelöst werden.
An seine Wut und Trauer zu kommen, kann jedoch schwer sein, da wir durch die Gesellschaft und deren destruktive Erziehungsmodelle nie wirklich gelernt haben, dass es gut und sogar notwendig ist, alle Gefühle auszuleben.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Nicht die Wut, die Trauer, die Angst oder Scham sind das Problem, sondern, dass wir die Wut, die Trauer, die Angst, die Scham als Problem sehen.
Emotionale Entladung und emotionale (Selbst-)Begleitung
Um Emotionen zu entladen brauchen wir ein Ventil. Dieses Ventil kann verbal hergestellt werden, z.B. indem ich mich einem Therapeuten, Coach oder Freund oder Partner anvertraue. Beim Entladen geht es weder um Bewertung, Ratschläge oder gar Verurteilung, sondern nur um bewusste Entladung, die völlig kommentarlos passieren kann. Analysen, Thesen oder Ansichten dazu gehören hier nicht hin. Eine andere Form der emotionalen Entladung kann durchs Schreiben passieren, die ähnlich geschieht wie die verbalen Entladung, nur ohne eine Gegenüber. Weil wir eine Gesellschaft sind, in der mentale Prozesse einen hohen Stellenwert bekommen, besteht hier die Gefahr, dass wir wieder im Denken feststecken bleiben, statt uns dem Gefühl zu öffnen. Das ist aber lediglich Übungssache.
Die emotionale (Selbst) Begleitung ist etwas, das wir zwar kognitiv verstehen und lernen können, aber ganz praktisch im Alltag anwenden müssen. Dazu müssen wir in der Lage sein, den inneren Beobachter einzuschalten, der in der Lage ist, zu erforschen und zu erkunden, der aber nicht ein bestimmtes Ziel verfolgt. Es geht weniger darum etwas „richtig“ zu machen oder zu lösen, sondern darum, zu beobachten und zu ergründen. Neugierde, Offenheit und Wachsein helfen, diesen Weg zu gehen. Man kann sich das ungefähr so vorstellen: Wir können uns einen Plan fürs Leben machen und eine Strategie entwickeln. Wenn wir das Leben führen, werden wir immer wieder mit überraschenden und unberechenbaren Ereignissen konfrontiert. Das gehört zum Leben dazu und ist weder etwas Schlechtes noch ein Problem. Es ist einfach das, was das Leben ist. Bewegung und Veränderung. Dinge kommen und Dinge gehen. Nur wenn wir uns dagegen verschließen, unflexibel und steif werden, fühlt es sich nicht mehr lebendig an und wir fühlen Widerstände oder sogar physische oder emotionale Schmerzen.
„Gefühle sind kein Problem, du bist kein Problem. Es geht einfach darum, immer den nächsten Schritt zu gehen, zu fühlen, was ist, wahrzunehmen, was ist. Jeden Atemzug. Jeden Schritt.“ Viviane Dittmar
Literatur:
Vivian Dittmar: Gefühle und Emotionen verstehen.
Maria Sanchez: Die revolutionäre Kraft des Fühlens.
Pete Walker: Posttraumatische Belastungsstörungen.
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